Inkunabeln

Heute verkoche ich Windeln zu stoffenem Brei, ich rühre im riesigen Kessel die Lumpen. Morgen werde ich den Brei mit dem Nudelholz ganz dünn auswalzen. Schweiß tropft von meiner Stirn.

Diese Wohnung ist heiß im Sommer und kalt im Winter. Immer im Sommer kommen die Fliegen. Immer um 3:15 kommt einer der Nachbarn mit dem Automobil, steigt aus und läutet, und sofort wird ihm immer die Tür geöffnet, er rennt hoch in den ersten Stock, und immer fährt dann jemand anders weiter mit dem kleinen, 20 Jahre alten Auto. Ich rühre schon fast eine Stunde, der Stoff beginnt sich endlich aufzulösen, als jemand an der Türe scharrt, ein rarer, umso schwierigerer Gast, der große Hund ist da. Selten verschlägt es diesen landstreichenden Ausreißer auf seinen Streunereien noch zu mir.

„Du Rebell du, was brauchst du von mir“, flüstere ich ihm durch das geöffnete Fenster neben der Tür zu. Er ist noch mehr gewachsen, und er ist ganz schwarz geworden, die weißen Zähne und die rote Zunge setzen sich noch mehr ab.

„Der Sirius ist aufgegangen, bald findet der Sommer sein End’.“

„Wem erzählst du das, ich sitz’ fast jede Nacht draußen und schau ins Licht der Sterne.“

„Was machst du?“

„Ich mache, also ich koche ein Buch. Es liegt noch in den Windeln sozusagen.“

Ich weiß ihn zu verblüffen, er flackert mich kurz an mit seinen stieren Augen, aber er scheint gar nicht zu Rätseln und Scherzen aufgelegt.

„Na komm schon rein, mein Kleiner.“

Ich öffne ihm die Tür, und mein kleines Vorzimmer­küchenbad füllt sich mit seinem GestanK. Alle Hunde riechen im Sommer, besonders wenn es leicht regnet wie jetzt. Er stapft ins andere Zimmer, in sein Eck, der einzige Platz, der ihm bleibt in meinen Bergen und Gebirgen aus Büchern und Altpapier. (Ich sammle das jetzt schon für den Winter als Anschüre für den Ofen). „Na, was magst? Hungrig? Einen Napf gewässerte Halt­ barmilch?“

„Ja gern.“

Ich hole die große Salatschüssel und mische Milch und Wasser, eins zu eins. Zwischen seinem Hungerblick und dem schunkelnden weißen Getränk hin und her blickend, trage ich die Schüssel vor den riesigen dunklen Hund, der da in meiner Ecke sitzt.

„Ich kann dir noch Reisfleisch kochen, wenn du willst.“ „Wuff!“ Er kläfft bejahend. Ich weiß, das ist seine Lieb­ lingsspeise.

„Niemand kocht das wie du!“ „Also: Ich stelle das über, aber dann erzählst du mir alles.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, trete ich die zwei Schritte zurück in die Vorzimmerbadküche, hole das Gammel­fleisch aus dem Tiefkühler, röste es schnell an und vermische es dann mit Reis. Ich rühre noch in meinem windligen Buch, schrecke das Reisfleisch ab und fülle den Topf mit Wasser. Ich hole mir die letzte Flasche schweren spanischen Weins. Ich öffne sie und setze mich zu meinem alten Freund, dem riesigen schwarzen Hund.

„Was ist los?“

Wie wenn man den Stöpsel aus der Badewanne zieht, und die Weisen und Strömungen des Wassers saugen sich hinunter in den Abfluss, so bricht jetzt der Fluss seiner Erzählungen los.

„Sie jagten mich, sie hatten mich auf der Baustelle ent­deckt, eigentlich nicht sie, sondern die Alarmanlage hat mich bemerkt, niemals hätten sie mich entdeckt, sie sind ja alle taub und blind, sie haben mich dann gejagt und eingefangen, aber mit einem allein gelassen. Nachdem er meinte, ich würde nun schon sehen, was mit mir passierte, hab ich Angst bekommen, der andere ist ja auch schon gegangen, die gerufene Polizei herbeizuführen, da hab ich den einen Nachtwärter einfach niedergesprungen, und der hat sich verletzt, jedenfalls blutete er aus dem Kopf.“ In seinem schwarzen Pelz entdeckte ich zwei, drei silb­rige Härchen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte.

„Und jetzt willst du dich bei mir verstecken.“

„Ja, eh nur bis morgen. Es wird ja schon hell.“

Er hat recht, draußen dämmert es, und ich höre, wie der eine Nachbar die Tür öffnet, der eine Nachbar, der immer um 5:30 aufs Klo geht, um dann mit dem Opelauto in die Opelarbeit loszufahren. Ich schließe die Tür zum Vorraum, blicke den Hund an und lege den Zeigefinger auf den Mund. Wir warten still die paar Türgeräusche und das Wegfahren des Wagens ab.

Er blieb schließlich drei Tage hier. Eine Woche später sollten mich zwei Pflanzen besuchen. Das Buch war dann schon getrocknet, geschnitten und fertig gebunden.

Aus Schmelze. Prosa 2014


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Fotos und Bilder (c) Markus Lindner