Markus Lindner: Schmelze
Prosa

ISBN: 978-3-99028-319-6 Verlag Bibliothek der Provinz , Weitra 2014
120 Seiten, 19 x 13 cm, Broschur € 13,00
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Rezensionen:

Erika Wimmer in LiLit 06/2015


Schmelze bedeutet Übergang von einem Aggregatzustand in den anderen, von Eis zu Flüssigkeit, von hart und kantig zu weich oder fließend. Damit etwas schmelzen kann, bedarf es entweder kontinuierlicher Wärme oder plötzlicher Hitze.
       Das Moment der Veränderung durchziehe als gemeinsame Komponente alle in dem kleinen Band versammelten Prosatexte von Markus Lindner, heißt es im Klappentext. Der Autor ist gebürtig aus Schwaz in Tirol, und dies ist – nach einigen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften – sein erstes Buch. Studiert hat Lindner Philosophie und Informatik, Wien ist sein Lebensmittelpunkt. Doch die Texte führen weit über Wien und Tirol hinaus, sie erzählen über Reisen und Aufenthalte in fernen Ländern: Griechenland, Frankreich, Russland, Naher Osten und China. In der Bewegung, im Vorankommen und im Ankommen  geschieht die Veränderung vornehmlich als Verschiebung der gewohnten Wahrnehmung. Die erzählten Realitäten haben wenig herkömmlich Exotisches an sich, gereist wird abseits touristischer Pfade, aufgesucht werden meist düstere Orte, die von schrägen Typen bevölkert sind. In einigen Texten überwiegen eindringliche Bilder einer fremden feindlichen Welt, in anderen geht es um Arbeit, um harte Arbeit, und wieder andere erzählen von verschrobenen Typen und merkwürdigen Situationen. Der Autor umkreist den Alltag, das Alltägliche, das Fahren und die persönliche Zeit, die erbarmungslos vergeht. In allem ist Flüchtiges und die Möglichkeit des Anderen, des Verschobenen. Die Protagonisten der Geschichten wechseln, doch allen eignet ein Blick über die konkrete, vielleicht banale Wirklichkeit hinaus. Zwischen sogenannter Realität und dem Surrealem verschwimmen die Grenzen, Liebe und Sexualität ereignen sich beiläufig, aus dem Kontext gerissen und ohne Zusammenhang: Auch den Beziehungen und der häufigen Anwesenheit von Tieren haftet etwas Unwirkliches an.
       Trotz des surrealen Charakters dieser Texte haben sie mehr Bodenhaftung als vieles andere, was heute veröffentlicht wird. Einige Beispiele: Den Auftakt macht eine Art Parabel mit dem Titel Inkunabeln: Ein Ich-Erzähler verkocht Windeln zu „stoffenem Brei“, es handelt sich um die Arbeit an einem Buch, erklärt er seinem Besucher, es ist ein merkwürdiges Wesen, ein sprechender Hund, den der Windelkocher einen Rebell nennt: „Ich mache, also ich koche ein Buch. Es liegt noch in den Windeln sozusagen.“ (S. 7) Als der Hund schließlich nach drei Tagen geht und Pflanzen ihn besuchen, ist das Buch „schon getrocknet, geschnitten und fertig gebunden.“ (S. 9) Der zweite Text der Sammlung Das Schichteln sticht besonders hervor: Es ist die konzise Schilderung einer (kaum näher umrissenen) Familie, deren Leben von der Schichtarbeit im „Schicht-Werk“ bestimmt ist – einem Werk, in dem seit dem achten Jahrhundert  Kupfer verschmolzen wird. (S. 10) Der Blick des Erzählers schweift beobachtend über diesen Ort, in dem die Männer den Hauptteil ihres Lebens verbringen, in einer Umgebung, „eingewickelt jeden Tag, mal mehr, mal weniger – es kommt auf die Windrichtung an – umwickelt von der schwarzen Seide des Dioxins, wie Messungen in den 1980ern plötzlich herausfinden.“ (S. 11)
       Das Zitieren objektiver Fakten aus Geschichte, Technik und Umwelt gehört zu Lindners Schreiben ebenso wie das Märchenhafte oder die (meist winterlichen) Naturbeschreibungen. In Passagierscheine reihen sich Russland-Impressionen eher unzusammenhängend aneinander, dem Leser und der Leserin werden reale Orte oder Daten zur russischen Wirtschaft geliefert, doch die Informationen ergeben kein eindeutiges Bild, sie schwimmen in häufig von Alkoholkonsum gekennzeichneten Bewusstseinszuständen und bleiben, was wohl bewusst so gestaltet ist, konturlos. Gesellschaftliche Gegenwartsthemen   wie das Leben von Asylwerbern in Österreich melden sich ebenso zu Wort wie die Tatsache des fortschreitenden Klimawandels und der Umweltzerstörung, doch diese Themen werden nicht ausgeführt, nur eingestreut. Einem Text wie Wintergang, in dem nichts anderes als ein Spaziergang im verschneiten Wald erzählt wird, gibt die Tatsache, dass der Spaziergänger von der Polizei aufgehalten wird, damit er sich ausweise, einen wohltuenden Realitätsbezug, ohne aufdringlichen moralischen Impetus. Man wird beim Wandern in heimatlicher Landschaft unter Umständen eben für einen Ausländer gehalten und polizeilich überprüft. (S. 31)  Genauso kann es geschehen, dass man beim Gehen auf einen in nur wenigen Jahren überraschend weit zurückgegangenen, demnach „verwundeten“ Gletscher stößt. (S. 73) Solche Dinge gibt es, doch sie scheinen längst zu Alltag geronnen, längst in den Bereich des Unveränderbaren gerückt. Selbst die Rakete einer Drohne, die ein Internetcafé in Syrien zerstört und mehrere Menschen in den Tod reißt, fügt sich beinahe selbstverständlich in das Bild einer verlorenen Welt. Nur in einem Text ZUERST: FRESSEN (Mit dem Kopf durch die Chinesische Mauer) klingt so etwas wie Anklage an, wenn der Konsumdrang der Massen und der Überwachungsstaat als Mittel zu ihrer Gefügig-Machung vorgeführt wird in der Parallele zum Märchen vom Schlaraffenland. In diesem Beitrag, mehr Essay als Geschichte, deklariert der Ich-Erzähler, anders als Wikipedia „Gesellschaftskritisches“ beobachten und erkennen zu wollen. (S. 32)
       In Summe erzählt Markus Lindner nicht larmoyant, aber auch nicht wirklich engagiert von einer aus den Fugen geratenen Welt, in der man nicht glücklich zu sein scheint, aber zu überleben weiß.  Die Texte widersetzen sich den möglichen Identifikationsangeboten und dem Aufbau von Spannung durch das Schildern durchgehender Charaktere und Geschichten; sie verhalten sich eher wie Splitter und Fragmente, was ein Dranbleiben beim Lesen nicht unbedingt fördert. Doch so ist sie eben, die hier geschilderte Welt, ein bisschen krass, ein bisschen langweilig. Sie ist vor allem kalt und doch hin und wieder so heiß, dass Materie zum Schmelzen gebracht wird. Man nimmt es offenbar hin. Das sich wie ein roter Faden durch diese Texte ziehende Lebensgefühl ist das einer Generation, die Unrecht und Fehlentwicklung zwar erkennt, aber nichts dagegen aufzubringen weiß.

Erika Wimmer

http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/tirol/lilit_6_2015/zoom.html#Lindner



"Bei [...] Schmelze verändert sich der Stoff und geht vom festen in den flüssigen Aggregatszustand über. Auch in der Poesie gibt es so etwas wie Schmelze, wenn sich ein Stoff während des Erzählens verändert und als Prosa-Lava über die Seiten fließt. Markus Lindner erzählt in knapp zwanzig Ansätzen von Stoffen, die harmlos daherkommen und jäh eine Verschärfung erfahren, von Helden, die während des Berichts traumatisiert werden und von Arealen, die während des Durchschreitens unbegehbar werden. [...] "Tiroler Gegenwartsliteratur" "


Helmuth Schönauer



Wortwolkenbär aus den Texten von Schmelze.


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Fotos und Bilder (c) Markus Lindner