Umbruch II: Schatten des Frühlings
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Schatten des Frühlings

Im Gymnasium waren wir nur acht Buben zusammen mit zwanzig Mädchen in der Klasse. Die Turnstunde damals in der sechsten Stufe waren zu einer Doppelstunde am Nachmittag zusammen gefasst. Je nach Witterung waren wir in der Halle an den diversen geräten und spielten dann Fußball oder Hockey vier gegen vier, oder wir waren im Freien und spielten dort Fußball, Basketball oder auch Tennis. Von allen Sportarten gefiel mir das Tennis am besten, irgendwie mochte ich die kurzen Sprints. Beim Wählen der Fußballmannschaften, durch unsere geringe Anzahl, gab es nur ein paar mögliche Konstellationen. Und nachdem drei von uns als sehr sportlich und gute Fußballer, der Rest so naja galten, und ich zusammen mit S. als sehr mies, waren immer der S. und ich in der letzten Wahlrunde. Das einzige, zu dem ich irgendwie taugte, war Sprintlauf über 100 Meter, da wir ich trotz meiner geringen Größe zur Verwunderung von allen einer der schnellsten.

Diese Nachmittagsstunden schweißten uns irgendwie zusammen. Wir warteten zusammen auf die Doppelstunde in diversen Gasthäusern, dem einem Kaffeehaus oder irgendwie in oder um den riesigen Schulbau. Einer von ihnen wohnte in einem Nachbardorf und unser Heimweg war zum Großteil der selbe. Oder später dann besuchten wir einander über das Wochenende. Zur Sonnwend gingen wir ab sechszehn dann zusammen auf die Berge, um Feuer zu machen, freilich sehr alkoholisiert, oft bis zur Besinnungslosigkeit. Einmal erinnere ich mich an ein Schlafen im Gehen, als wir mitten in der Nacht – die Herz-Jesu-Feuer waren schon fast alle aus, die Sterne darüber noch da – den Pendling (einen berg) hintergingen. Mir kam vor ich schlief im Gehen immer wieder ein, oder es war wie Trance oder ein Automatismus.

Ein Wochenende verbachten wir zu viert im Wald in der Nähe des Dorfes, in dem A. und B. wohnten. A. und B. waren die besten Sportler der Klasse, während der C. und ich die Nieten waren. Beim Ausgehen und Feiern (wie wir es nannten), waren wir alle super. Im Laufe des Nachmittags hatten wir alles vorbereitet. Eine Kiste Bier im Laden besorgt, auf dem Gepäcksträger in den Wald geschmuggelt und dort unter Zweigen und Laub versteckt, fern der argwöhnischen Blicke der Eltern des A. Wir saßen zum Abendessen bei den Eltern von A., und dann entfernten wir uns mit Dosencola hinaus. Mit den Rädern den Forstweg entlang, bei der ersten Gabel nach links, da war unser Bierversteck. Wir sammelten Reisig und machten ein klacksendes Feuer an, und euphorisch vom Alkohol vergingen die Stunden. Ein kalter Regen setzte ein, es war erst gerade Frühling geworden. Das Feuer ging aus, grau rauchte es noch ein wenig dahin. Unter den Ästen der Bäumen war unsere Zuflucht vor dem immer wieder einsetzenden Regen. Es dämmerte als wir uns zum Schlafen in die Häuser der Familien von A. und B. aufmachten.

Wieder in der Schule, ein paar Tage später. Der Gesundheitsminister hielt jeden Tag Ansprachen im Fernsehen.
Und die Nachbarin, du kannst es dir nicht vorstellen!
Und der E. erzählte von seiner alten Nachbarin, die mit Salatköpfen aus ihrem Garten in den Händen in der Küche stand, und erzählte leicht empört davon, dass von diesem Käsium wie sie es nannte, nichts zu sehen sei und sie deshalb sicher sei, dass hier in der Wildschönau wohl keines gäbe. I sich nix! Die spinnen jo!

Eindringlich aber sachlich souverän, warnte der Gesundheitsminister Franz Kreuzer im hirschhornknopfverzierten Janker immer wieder vor dem Verzehr von Gemüse und Obst aus dem Freiem. Weiters wurde die Erden der Kinderspielplätze abgetragen. Und wir lernten neue Wörter: GAU. Und Super-GAU.

Jahre später und das Wir unserer Klasse hat sich über den Kontinent verteilt, in verschiedenen Tätigkeiten. Vieles sahen wir nun anders. Auch hatten wir das Bewusstsein, dass der Reaktorunfall in Tschernobyl einer der schlimmsten Unfälle seiner Art gewesen war. Nun erreichte mich ein Anruf vom C., dass der B. inzwischen schwer erkrankt war, und zwar – unfassbar! – an Knochenkrebs, und nach und nach gab es mehr Details: Angefangen hatte alles mit einem plötzlichen Schmerz im Oberschenkel, der über ein paar Tage immer schlimmer wurde. Vom Hausarzt kam er ins Bezirkskrankenhaus, und von dort in die Klinik der Hauptstadt. Aber es blieb ein Rätsel. Im Landesklinikum erklärten die Ärzte dann so: Wahrscheinlich ist es ein Haarriss. Ein so kleiner Riss im Knochen, dass er deshalb nicht im Röntgen sichtbar war.


Foto: Arne Müseler / www.arne-mueseler.com, der Nutzungsrechtsinhaber dieses Werkes, veröffentlicht es hiermit unter der folgenden Lizenz: CC BY-SA 3.0 de
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Reaktor 4. Das Foto wurde 2013 gemacht und zeigt auch den sogenannten "Sarkophag".

26.04.2019