Umbruch IIII: Evros
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Evros

membra iacent diversa locis, caput, Hebre, lyramque
excipis: et (mirum!) medio dum labitur amne,
flebile nescio quid queritur lyra, flebile lingua
murmurat exanimis, respondent flebile ripae.


Die Körperteile sind auf verschiedene Orte verteilt;
Evros, du hast sie, Haupt und Lyra im Strom und
- oh Wunder -
ich weiß nicht die Klagen der traurigen Lyra und Zunge,
aber traurig antworten die Ufer.


Ovid, Metamorphosen, Tod des Morpheus

Es wird Abend, die Sonne steht etwa drei Sonnenradien über dem Horizont. Die Hitze wird durch die hohe Luftfeuchtigkeit noch verstärkt. Das Singen der Zikaden und Insekten verdichtet sich zu einem lauten, fast motorisch-industriellen Geräusch. Mohammed hat diese Zyklen, in denen sich die Intensität der Insektengesänge verstärkt hat, schon vor Wochen, als er in diese Gegend kam, bemerkt. Er hat den Zikadenlärm in brenzligen Situationen (oder auch nur, wenn ihn die Paranoia mit extremer Aufmerksamkeit versehen hatte) dazu benützt, weiter zu gehen durch die Wälder und Sümpfe des Grenzgebietes zwischen der Türkei und der EU. Er bemüht sich, die schleichende Lautlosigkeit der Katzen anzunehmen, das Heranpirschen in den Schatten der Bäume, hinter Zweigen versteckt, jeden unnötigen Laut zu vermeiden, gebückt, in den Knien durch die Pflanzen zu gehen, die ihn vor Blicken schützen, stets die Tiere beobachtend, ihre Laute deutend als eine etwaige Nähe von Menschen, die die gefährlichste Begegnung für ihn hier sein könnte. Der Fluss ist nah, die Schlepper nannten ihn Meriç Nehri, Mariza oder Evros. Der Grenzfluss hat in den verschiedenen Sprachen der Länder verschiedene Namen. Immer wieder geht er durchs Wasser, um den Hunden keine Fährte zu geben, sei es ein Bach, dem er folgt, sei es morastiger Sumpf, wo er manchmal bis zu den Hüften versinkt, die Schuhe dann in das Bündel seiner paar Habseligkeiten genommen, das er am Rücken trägt.

Er beobachtet einen Reiher, etwa zehn Meter entfernt, wie er da sitzt und plötzlich ins Wasser stößt, um einen Frosch oder Fisch dann mit dem Schnabel gen Himmel gerichtet mit zwei oder drei Schluckern hinunter zu würgen. Fressen und Gefressen Werden, Jäger und Gejagte, die Gesetze der Natur. Die Frösche jagen, wie die riesigen bunten Libellen hier, Wasserläufer, Mücken und Fliegen, und die Frösche werden wiederum von riesigen Vögeln gejagt. Mohammed kennt den Reiher aus den Sümpfen des Oxos in Usbekistan und vom Nil, Stationen auf seinen Weg in den Westen. Die riesigen, manchmal wie rosa angemalten Vögeln mit den nach unten gebogenen dunklen Schnäbel, die in großen, hunderte umfassenden Schwärmen auftreten, hat er noch nie gesehen. Später wird er erfahren, dass die Vögel Flamingos genannt werden. Auch Mohammed ist ein Gejagter. Er weiß, dass die Grenzpolizisten ihn jagen. Die Schlepper haben ihn eindringlich gewarnt vor ihnen, haben ihm erklärt, dass er den Grenzfluss suchen soll und ihn durchschwimmen soll, wo dann am anderen Ufer die nächsten Grenzer schon auf ihn und andere Flüchtlinge warten. Sie haben ihn eindringlich vor den Grenzern des anderen, europäischen Ufers gewarnt, sie haben ihm geraten, dass er langsam, ihm Schutz der Natur vorwärts gehen soll. Die Grenzer machen tausend Fehler, aber macht er nur einen Fehler, dann ist sein Vorhaben schnell gescheitert.

Die Sonne ist ganz orange und breitgedrückt, als sich hinter dem Schilf ein breiter Fluss andeutet. Mohammed wischt sich den Schweiß aus seiner moskitozerbissenen Stirn. Scharf fühlt sich der Schweiß in den Augen an und salzig im Mund. Er hat kaum noch Wasser und er hat gezögert seine Flasche im Sumpfgebiet aufzufüllen. Nicht nur ist der Grenzfluss das erste Ziel seiner Etappe, der Fluss bietet auch Wasser, das sich da zwanzig Meter vor ihm schnell genug von rechts nach links bewegt, um trinkbar zu sein. Mohammed weiß, dass gerade die Momente der großen Bedürfnisse die gefährlichsten sein können, so bückt er sich im Schilf nieder, bis sich sein Atem beruhigt hat und lauscht auf verdächtige Geräusche. Er weiß auch, dass der Fluss selber wohl am besten bewacht wird, besser als die Hinterländer und noch dazu von den Grenzern von zwei Ländern. Er weiß, dass er am besten nur zweimal ans Ufer tritt, einmal um seinen Durst endlich zu löschen und die salzige Kruste, die der Schweiß auf seiner Haut hinterlassen hat, ab zu waschen. Und das zweite Mal, um durch die Fluten ans andere Ufer zu schwimmen, beides Mal muss er möglichst schnell sein. Greifen ihn die Grenzer noch auf dieser Seite auf, sind all die Mühen und Auslagen der letzten Monaten umsonst. Er muss also wenigstens alles daran setzen, ans andere Ufer zu gelangen, nach Europa, wo es Freiheit und Menschenrechte gibt, und diese auch respektiert werden, wo er endlich als politischer Flüchtling anerkannt werden wird. Er ist sich sicher, dass sein beschwerlicher Weg bald ein Ende haben wird, und dass er dann den seinen, die noch in Syrien sind, bald von Europa aus Hilfe zukommen lassen kann. Er beschließt, noch zu warten mit dem Trinken, und Wasser am Weg durch den Fluss aufzunehmen. Der Schweiß wird ganz von selbst abgewaschen werden, so sehr es ihn auch schon zum Wasser schon zieht, er wartet ab und sondiert noch einmal sein Bündel, das er aufknotet und die paar Sachen, die er mit hat, noch einmal durchsieht: das dünne Tuch, das er zusammengelegt und -gerollt hat, das ihm in den letzten Wochen als Decke, Sonnenschutz und Tisch gedient hat. In zwei ineinander gesteckten Plastiktüten sein Pass, den er sich um viel Geld von einem korrupten Beamten hat ausstellen lassen. Dazu noch zwei Päckchen Zündhölzer; die kleine, einen halben Liter fassende Flasche aus leichtem Metall, die zerbeult und abgekratzt ist; ein kleines Messer mit der Scheide in den hölzernen Griff gedreht; und schließlich seine Schuhe aus Leder, die von den Strapazen der Wochen gezeichnet sind. Die letzten Tage hat er sich von dem ernährt, was ihm die Natur angeboten hat, eine Natur, die ihm freilich gänzlich fremd ist. Sein Magen knurrt. Er zieht sich nun aus und steckt die Kleider ins Bündel, er weiß auch, dass es sich nackt viel besser schwimmt; er schaut sich um und sucht einen Ast, an den er sich klammern will, der seine Kräfte schont und der ihm auch Sichtschutz bieten soll in den kritischen Momenten des Durchschwimmens, schließlich wählt er einen etwa anderthalb Meter langen Ast, der trocken ist, von dem sich die Rinde bereits gelöst hat und der ihm zusammen mit den Resten von Zweigen und getrockneten Blättern perfekt scheint, um ihn über diesen Fluss zu helfen.

Die Sonne sinkt in den Fluss, und immer mit der Dämmerung setzte der unbarmherzige Ansturm der Moskitos ein. Mohammed hat eine gute Einstiegsstelle gefunden, die ihn möglichst geschützt vor etwaigen Blicken erlaubt, den Ast ins Wasser zu lassen und langsam, geschmeidig wie ein Tier ins Wasser zu gleiten. Versteckt hinter dem Gezweig, mit langsamen, bestimmten Bewegungen stemmt er sich durch den Fluss, dessen Breite er hier auf 150 Meter schätzt. Die Dämmerung scheint ihm einen perfekten Schutz zu bieten, noch kann er alles erkennen. Das Wasser hat die Wärme eines Flusses zu Hochwasser, gleichzeitig kommt es ihm in den Sinn, dass ihn das Wasser gerade reinwascht von den Anstrengungen der letzten Monate, bald wird er am Ziel sein, das Ufer kommt näher und näher, als er plötzlich ein Brummen irgendwo flussaufwärts wahrnimmt, ein Brummen, das er fürchtet und das er sehr gut kennt: Ein Helikopter ist unterwegs, natürlich sind die Grenzer hier mit allem ausgerüstet, was moderne Waffentechnik bietet, neben Fluggerät und Booten auch Nachtsichtgeräte, Radar und als ultima ratio modernste Waffen, und natürlich schwimmt Mohammed gerade nackt, das Bündel Kleider an einen nackten Stamm gebunden.

Mohammed ist hocherfreut wie einfach das Übersetzen funktioniert, er hat sich viele Abende mit geschlossenen Augen auf diesen wichtigen Schritt vorbereitet, und jetzt scheint es gelungen. Er schickt den Ast auch als Ablenkung weiter auf die Reise im Fluss, und schleicht langsam durch das Unterholz, auf allen Vieren kriechend, mit jeden Wischer über Stirn, Arm oder Bein zerschmiert er Moskitos auf seiner Haut. Das Brummen des Helikopters war bedrohlich lange, für ein paar Minuten, näher gekommen, um sich plötzlich zu entfernen, auch hörte er eine durch ein Megafon oder ähnliches verstärkte Stimme in einer ihm unbekannten Sprache. Offensichtlich war die Helikopterbesatzung abgelenkt durch einen anderen Flüchtlingsaufgriff, er kann sein Glück kaum fassen, er weiß aber auch, dass das Glück nicht immer auf seiner Seite stehen wird. Er läuft so schnell er kann durch die dämmernde Landschaft, den Fluss genau im Rücken, das ist seine Richtung, er läuft solange er kann. Das Laufen geht schließlich in Gehen über, seine Wasserflasche ist leer, als er sich erschöpft irgendwo im Dunklen an einen Baumstamm lehnt, mitten im Unterholz. Er blickt hoch zum mondlosen Sternenhimmel und sucht die wohlbekannten Sternzeichen (Großer Bär - er kennt es als Großer Mädchensarg, Kassiopeia, er kennt es als Stuhl am Rücken des Kamels, den Stern Wega kennt er als Herabstoßenden Adler). Er schläft endlich ein.

Er weiß nicht, was ihn geweckt hat, wahrscheinlich irgendein Tierlaut, viele Tiere kreischen und schreien durch die Morgendämmerung, denn da, rechts von ihm, kündigt sich die Sonne schon durch das rote Leuchten an.